Wir befürchten nur, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt

Bis es nicht mehr ging, hielt Werder an einem Trainer fest, der die Zeichen der Zeit nicht erkennen wollte. Für die Stadt ist das typisch. Über die Parallelen der Krisen bei Werder und Bremen. Eine Innenansicht aus dem gallischen Dorf. Von Jan-Philipp Hein

Die wichtigsten jährlichen Ereignisse im kleinsten Bundesland der Welt sind schnell aufgezählt. Bremer Herren, die was auf sich halten, rennen in Pinguinkluft am Dreikönigstag zum Osterdeich und zelebrieren dort die Eiswette. Es wird der Frage nachgegangen, “of de Werser geiht or steiht”, also ob der Fluss zugefroren ist, oder von Schiffen befahren werden kann. Irgendwann, als Bremen noch stolz und potent war — heute ist es eine stolze Stadt — war das für die weltweit handelnden Kaufleute von existenzieller Bedeutung. Der zweite extrem wichtige Termin der Hansestadt ist das Schaffermahl. Auch hierbei handelt es sich um einen Männerbund. Im Rathaus versammeln sich die Pinguine, um sich selbst zu feiern. Ursprünglich verabschiedeten sich bei der Schaffermahlzeit die Bremer Reeder und Kaufleute vor dem Frühling von ihren Kapitänen, die ihre Fahrten über die Weltmeere antraten. Heute geht es — nicht nur beim Schaffermahl — im Bremer Rathaus ums Sehen und Gesehenwerden.

In Zukunft wird auch der 15. Mai ein wichtiger Tag im Bremer Kalender sein. Vornehmlich Männer in grünen Gewändern werden sich am Weserstadion treffen, um zu trauern. An diesem Tag im Jahr 2013 nämlich hat sich der SV Werder Bremen von seinem langjährigen Trainer Thomas Schaaf getrennt. Und es ist ein Wunder, dass der Innensenator des altehrwürdigen Stadtstaates nicht die Beflaggung auf Halbmast angeordnet hat. Wer nicht dabei war, wird diese Zeilen vielleicht nicht nachvollziehen können. Aber die Stadt befindet sich seit Mittwoch in einem emotionalen Ausnahmezustand.

Natürlich. 14 Jahre Übungsleiter bei einem Verein, das ist eine lange Zeit — zumal im Profifußball. Und Thomas Schaaf hat eine beeindruckende Bilanz vorzuweisen. Der kleine Fußballverein aus dem Norden hat unter ihm einmal die deutsche Meisterschaft errungen, wurde dreimal Pokalsieger und die Champions-League-Ära des SV Werder geht auch wesentlich auf die Fähigkeiten des Mannes zurück, dem sie in Bremen wahrscheinlich bald ein Denkmal bauen werden.

Nur ist das eben nicht alles. Unter Schaaf ging es in den letzten drei Jahren beständig bergab. Am Ende der der letzten Spielzeiten standen stets um die 60 Gegentore, was ein indiskutabler Wert ist. Schaaf ließ einen begnadet schönen Angriffsfußball spielen, weigerte sich aber konsequent, ein Abwehrkonzept zu trainieren. Auch als es vorne nicht mehr rund lief, die großen Namen wie Johan Micoud, Diego, Mesut Özil und zuletzt Claudio Pizarro nicht mehr da waren, vertraute Schaaf auf seinen Gute-Laune-Überfall-Fußball, der es sich stets verzieh, hinten vier Buden zu kassieren, weil die Truppe schließlich vorne mindestens fünf Dinger ins Netz beförderte. Es war ein bisschen so, als würden die Berliner Philharmoniker mit einem Kader des Orchesters der Freiwilligen Feuerwehr von Posemuckel allwöchentlich Bruckner-Sinfonien aufführen. Verliebt in seine ästhetische Idee vom Fußball übersah der Maestro, dass es längst nicht mehr um Geschmacksfragen ging, sondern im Weser-Stadion ein Kampf ums Überleben in der ersten Liga stattfand.

Und dabei schaute ganz Bremen zu. Im Weserstadion und den Bremer Kneipen mit Leinwand wurden irgendwann nicht mehr Tore bejubelt. Das Publikum meines Stammladens applaudierte bereits bei erflogreichen Pässen über 10 Meter in der eigenen Hälfte oder das Herausspielen eines Eckballs. Als Werder bei den Bayern 1:6 verlor, wurde der Anschlusstreffer zum 1:4 Mitte der zweiten Hälfte bejubelt wie ein Siegtor in der Nachspielzeit. Eine ganze Stadt schien besoffen. Kritik an Schaaf war bis vor wenigen Monaten tabu. Obwohl die schwere Krise des Clubs bis dahin schon jahrelang manifest war, galt Schaaf als sakrosankt.

Das ist jedoch kein Phänomen des Vereins. So ist Bremen. Wenn sich in der Stadt Probleme erstmal bewährt haben, wird auch an ihnen festgehalten — so lange, bis der Wirklichkeit nicht mehr ausgewichen werden kann.

So leistet sich das kleinste Bundesland der Welt auch die kleinste ARD-Anstalt des Globus’. Radio Bremen ist für Bremen das, was für Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern der NDR ist. Einen wesentlichen Unterschied gibt es freilich doch. Der Kleinstsender macht kein eigenes Fernsehprogramm, sondern ist auf ein Minifenster im Angebot des NDR angewiesen. Dort wird mit “buten un binnen” eine alles in allem solide aber etwas weinerliche Lokalsendung produziert und gezeigt. Der Rest von RB-TV sieht aus wie beim Offenen Kanal eingekauft. Dazu gibt es noch zwei eigene Radiowellen und zwei weitere Wellen, die in Kooperationen mit potenten ARD-Sendern gemacht werden. Übrigens: Auch der Radio Bremen-Tatort wird fast komplett nicht von Radio Bremen finanziert. Was der Bremer, dessen Rundfunkgebühren so hoch wie im Rest des Landes sind, davon hat, dass auf seinem klammen Sender “Radio Bremen” steht, kann keiner so richtig erklären. Wer aber in Bremen vorschlägt, die Anstalt zu schließen und aus Radio Bremen ein Landesfunkhaus des reichen NDR zu machen, wird umgehend als Nestbeschmutzer beschimpft. Das Problem ist mental und nicht real. Die Bremer Gefühlslogik: Wird der Sender geschlossen, machen sie auch bald das Bundesland dicht. Dass eine ARD-Anstalt vom Parlament abgewickelt werden kann, eine Länderfusion aber ohne Volksabstimmung nicht geht, wird dabei einfach übersehen.

Nächstes Beispiel der Bremer Agonie: Die städtischen Kliniken reißen Millionenlöcher in den eh schon völlig desaströsen Haushalt der Stadt. Aber die Diskussion über eine Privatisierung der Kliniken findet einfach nicht statt. Das klamme Land glaubt, der bessere Krankenhausbetreiber zu sein als die darauf spezialisierten Unternehmen am freien Markt, die bundesweit an vielen Standorten zeigen, dass sie es drauf haben. Die Logik hier: Wir sind eine stolze Stadt. Wir können das also. Und kommen Sie in Bremen auch nicht damit, dass der Hamburger Patient, dessen Kliniken vor ein paar Jahren verkauft wurden, wahrlich nicht schlechter behandelt wird, als sein Pendant in der kleineren Hansestadt. Es interessiert keinen.

Das also ist Bremen: Lieber geht man mit Hurra-Fußball unter, als solide in der Abwehr zu stehen und sich im Mittelfeld eine Basis für neue Höhenflüge zu schaffen. Lieber ein Radio Bremen, das nichts mehr mit seiner glanzvollen Ära zu tun hat, in der sich dort Rudi Carrell, Loriot und Hape Kerkeling die Klinke in die Hand gaben, als eine Dependance des Dickschiffs NDR. Und lieber unterfinanzierte Kliniken auf denen “Made in Bremen” steht, als eine Filiale einer privaten GmbH.

Kein Wunder also, dass auch die Schaaf-Entlassung zur Staatsaffäre wurde. Sie kratzt am bremischen Selbstverständnis des gallischen Dorfs. So entblödete sich auch die Spitzenkadidatin der CDU zur Bundestagswahl, eine gewisse Elisabeth Motschmann, nicht, zu fordern, dass Vereins-Urgestein Willi Lemke “seine Position im Werder-Aufsichtrat überdenken” müsse. “Mit dem alleinigen Wechsel auf der Trainerbank gelingt kein Neuanfang”, analysierte die Abgeordnete der Bürgerschaft per Pressemitteilung. Auf Nachfrage tat sie sich freilich etwas schwer, die Abseitsregel umfassend zu erklären. So ist Bremen. Es hapert an allen Ecken und Enden und ist enorm lebenswert. Bin schon da.

(zuerst erschienen in “Schleswig Holstein am Sonntag”, 19. Mai 2013)

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